An den Ufern der Unendlichkeit

In diesem Buch erhalten wir Einblicke in Medhanandas reiches inneres und äußeres Leben: Seine Kindheit und Studienzeit in Deutschland (19081933); seinen langen Aufenthalt auf den damals noch fast unberührten polynesischen Inseln (19331952), mit spirituellen Erfahrungen und Begegnungen mit einheimischen Stammeshäuptlingen, die ihn in ihre alte Gnosis einweihten; seine Jahre in Südindien (19521994) auf dem Weg des Integralen Yoga von Sri Aurobindo und der „Mutter“. Wir erfahren auch, wie intensiv er während eines Aufenthaltes in Ägypten die alten Bilder und Monumente erlebte, und wie sich ihm deren tiefere Bedeutung intuitiv erschloss. Diese sehr persönlichen Einblicke verdanken wir Yvonne Artaud, seiner langjährigen Gefährtin und Mitarbeiterin, die – nach Medhanandas Tod (1994) – seine Tagebuchnotizen gesammelt und, zusammen mit seinen Erzählungen (aus Gesprächen mit ihr), zum vorliegenden Buch zusammengestellt hat.

196 Seiten, Softcover ISBN: 9783769353853 > BoD

Hardcover ISBN: 9798281590242 > Amazon

eBook > Kindle

Leseprobe:

Schönheit

Wenn man etwas Schönes an einem bestimmten Ort sieht, ist es erträglich. Trifft man aber auf Schönheit, wohin immer man seinen Blick wendet, so wie es mir in einigen Landschaften von Moorea erging, ist es die äußerste Grenze des Erträglichen. Es schmerzt richtiggehend.

Eines Tages, auf dem kleinen Schiff, das ich alle zwei Monate zu nehmen pflegte, um auf Tahiti meine Einkäufe zu tätigen, war es dermaßen schön, dass ich meinen Körper verlassen wollte. Der Kapitän war zwar ein alter Alkoholiker, das altersmorsche Boot fiel fast auseinander, und der Dieselmotor mochte während der dreistündigen Überfahrt jeden Moment aussetzen und uns hilflos zurücklassen, aber das Sonnenlicht durchflutete alles, jede Welle trug eine weiße Schaumkrone ganz oben auf dem Kamm zwischen violetten Tälern, die die mütterlichen Tiefen des Ozeans offenbarten.

Dieser Kontrast zwischen den schneeweißen Höhen und den ebenholzschwarzen Tiefen (wie bei Schneewittchen im gleichnamigen Märchen) war erschütternd. Auch Jahre danach sind diese Bilder immer noch in mir – immer noch dieselbe Landschaft, dieselben Berge, dieselben Wellen, derselbe Kapitän.

Der Yoga des Ozeans

Warum lauschen wir so gerne dem Ozean? Ist er nicht wie ein großes, atmendes Wesen? Der Ozean atmet wirklich – er nimmt Luft auf und gibt sie wieder ab. Sein Geräusch hier in Indien ist anders als das an der Mittelmeerküste oder in Biarritz, oder auf den Tuamotu-Inseln. Der Pazifische Ozean ist unendlich. Auf einem Globus kann man sehen, dass er die Hälfte der Erdkugel einnimmt.

Wenn du in ständiger Verbindung mit ihm lebst – ich würde lieber sagen, mit ihr (den mütterlichen Wassern) lebst, entwickelt sich eine innere Bewegung hin zu ihr, die derjenigen des Yogas entspricht. Sie lehrte mich zu atmen. Sie lehrte mich, was totale Hingabe ist. Sie ist unsere Mutter, und ist es immer schon gewesen. Sie gibt sich uns selbst in unserem Blut. Ohne sie wäre kein Leben entstanden, das Leben wäre nicht möglich gewesen: Sie hat es beschützt und hat ihm ermöglicht, sich zu entwickeln. Sie ist in allem, sie harmonisiert alles, bringt alles ins Gleichgewicht. Sie enthält alle Rhythmen – den Rhythmus des Atmens, des Mondes, die Rhythmen von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Jahre. Alle Meeresbewohner sind ihre Kinder, von den Schwärmen winzig kleiner Fische bis hin zu den merkwürdigsten Monstern der Tiefe. Alle Inseln gehören ihr, jede Einzelne von ihnen erinnert sich allezeit an sie und vibriert in ihrem Schlaf als Antwort auf die Berührung ihrer ‚Mutter‘ rund um ihren Körper – sie kommt von ihr und wird eines Tages wieder zurückgehen zu ihr. Ihre Berührung bewirkt, dass man lernt, sich vollständig zu schenken, sich hinzugeben ohne Rückhalt. Solange man sich fürchtet, ist sie schrecklich; doch sobald man sich ihr hingibt, wird sie sanft und weich, wie eine wahre Mutter. Keine Mutter liebkost ihr Kind, wie sie es tut, hätschelt und nährt es wie sie. Keine versteht es, so wunderbare Spiele zu spielen, wie sie es tut. Sie enthüllt einen Schatz nach dem anderen. Man wird weit wie sie, ewig wie sie. Überall ist sie die Herrscherin; dort, wo das Wasser kristallklar und leuchtend ist, wie auch in den Tiefen, wo jedes Wesen seine eigene Aura hat, um seinen Weg zu erhellen.

Solange du ihr mit Widerstand begegnest, kämpfst und dich anstrengst, kannst du sie nicht kennen. Wenn du dich aber vollständig von ihr tragen lässt, wiegt dich jede Welle mit unendlicher Zärtlichkeit. Bist du inmitten des Ozeans verloren und kämpfst, ist es aus mit dir. Willst du in eine bestimmte Richtung schwimmen, ist es ebenfalls aus. Stellst du die geringste Forderung oder verspürst den kleinsten Anflug von Rebellion, bist du verloren. Willst du ruhen, während sie mit dir spielen will, bist du ebenfalls verloren.

Das Gleiche gilt auch im Yoga: Du darfst dich nicht auf eine bestimmte Richtung festlegen, oder kämpfen, oder dich zu sehr bemühen, nein, du musst dich tragen lassen, dich entspannen und jeglichen Widerstand aufgeben, jeglichen Anspruch loslassen. Ist da noch der kleinste gesonderte Wille, das kleinste Hadern, ist es um dich geschehen. Gibst du dich aber hin, wirst du genau an den Ort getragen, der für dich bestimmt ist und an den du gehen willst. Diese bedingungslose Hingabe darf nicht mit Trägheit verwechselt werden, nein, eine willentliche, freudige, bewusste Hingabe deiner selbst ist gefordert. Und nichts mehr in dir sollte Widerstand leisten, keine einzige Zelle des Körpers, keine einzige unterbewusste oder unbewusste Regung.

Warum sich an die Dinge klammern? In der Ewigkeit des Werdens gibt es nichts festzuhalten. Willst du etwas behalten – deine kleine, gesonderte Individualität –, so geht das nicht: Du musst bereit sein, alles loszulassen. Eines Tages wird die große Welle sowieso alles wegspülen.

Man sehe nur, wie die Tahitianer schwimmen – in vollkommener Entspannung. Sie strengen sich nicht an, sie kämpfen nicht – sie gleiten durch das Wasser. Wenn sie einem Europäer beim Schwimmen zusehen, schütteln sie sich vor Lachen bei dem Anblick, wie er wild um sich schlägt, zappelt wie ein Frosch, und gegen seine ‚Mutter‘ kämpft.

Auf den Inseln findet man keine alten Schiffe. Das Meer nimmt sie alle zu sich. Immer gibt es welche, die nicht zurückkommen. Und unter den Passagieren kehren die Chinesen und Europäer selten zurück, wohingegen die Eingeborenen gewöhnlich eine Strömung finden, die sie nach ein paar Stunden, einem Tag oder drei Tagen zu einer Insel trägt. Du darfst nicht die geringste Befürchtung hegen, musst schwimmen lernen wie die Eingeborenen. Andernfalls erhebt sich plötzlich eine Wasserfront vor dir, etwas packt dich im Nacken und taucht dich bis zum Grund; dann zieht es dich für einen Augenblick wieder hoch, gerade lange genug, dass du Luft schnappen kannst, – um dich dann wieder tief hinabzudrücken …, und dies solange, bis du verstanden hast.

Wenn du keine Angst mehr hast, wenn du dich völlig hingibst, dann wird das, was zuvor furchterregend, ja feindlich schien, zu etwas Sanftem, das mit dir spielt. Die Weite schreckt dich nicht mehr. Eine wirkliche, persönliche Beziehung baut sich auf.

Ich erinnere mich, wie unsere kleine Christa, damals sechs Jahre alt, von Frankreich bei uns ankam. Ich holte sie von dem großen Passagierschiff in Tahiti ab. Wir bestiegen einen kleinen Kutter, um nach Moorea, unserer Insel, überzusetzen. An diesem Tag war die See stürmisch, und die Wellen waren höher als das kleine Schiff. Tatsächlich war es so überladen, dass das Wasser bis ans Deck reichte und es auf seiner Überfahrt eher unter als über dem Wasser lag. Pausenlos brachen sich die Wellen über ihm. Aber es war aus Holz gebaut und ging mit den Wellen, und die Kabine war wasserdicht. War man auf Deck, musste man sich gut festhalten. Es gibt nichts Schöneres als den Anblick der Wellen auf stürmischer See – diese Kraft und diese Farben – vom tiefen Schwarz bis zum Weiß der Gischt, mit allen Nuancen von Grün und Blau dazwischen.

Ich hielt Christa unter meinem Regenmantel fest an mich gedrückt. Ich konnte fühlen, dass sie Angst hatte. Es war ihr ums Weinen zumute. Sie war ganz angespannt. Zu guter Letzt aber, vielleicht aus Müdigkeit, entspannte sie sich plötzlich und gab sich hin. Statt sie zu erschrecken, brachten die Wellen sie jetzt zum Lachen, – was hatten wir für einen Spaß, wir zwei!

Die Europäer, die einen regelmäßigen Passagierdienst zwischen den Inseln mit einem fixen Fahrplan wünschten, ließen ein metallenes Schiff mit einem erfahrenen Kapitän auslaufen. Es kehrte von seiner Jungfernfahrt nicht zurück. Man kann es immer noch sehen: Die See packte es und warf es auf ein Riff, wo es heute noch liegt. Ein anderes Mal kam ein Vermessungsschiff, mit dem Auftrag, von den Inseln genauere Karten zu erstellen. Auch dieses sank in einer Lagune, wo es immer noch zu sehen ist. Auf jener Insel stehen im Hause des Häuptlings einige vornehme Flechtstühle und Mahagoni-Möbel aus jenem Schiff.

Du kannst dir kaum vorstellen, wie ungeheuer groß der Pazifik ist, und wie klein die Inseln. Du kannst mitten durch ein Archipel hindurchfahren, ohne je eine der Inseln zu sehen. Die Matrosen auf dem ersten europäischen Segelschiff, das den Pazifik durchquerte, bekamen keine einzige Insel zu Gesicht. Andere fuhren von Insel zu Insel, getragen von der herrschenden Strömung. Aber sogar von Insel zu Insel ist der Weg weit.

Wenn du zwischen den Inseln reist, und dir der Gedanke kommt, das Schiff könnte bersten und du würdest weggetragen und gefressen werden, so ist dieser Gedanke nicht ganz unberechtigt. Wenn du Angst hast, ja wenn du nicht alles hingibst, erreichst du deine Bestimmung nicht. Nur wenn du dich ganz hingibst, kannst du im Gefühl völliger Sicherheit leben. Nichts kann dir dann geschehen, und selbst wenn du fällst, landest du immer nur in den Armen deiner Mutter.

Spontanes Unterrichten in der Sri Aurobindo Bibliothek, Pondicherry

 

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Auf den Spuren Medhanandas

I Kindheit und Erinnerungsbilder

Erinnerungsbilder – Aletheia, das Unvergessliche

Begegnung mit dem Licht

Ausreißen

Sein und Werden

Fritz? – Nein!

Totems und Archetypen

Die Zeit der Mammuts

Die Prinzessin Kun-I

Die Anmut der Tiere

II Jugend und Studentenleben

Der Heilige

Ein unvergesslicher Moment

Der junge Mönch hinter dem jungen Mann

Praktikant

Studentenleben

Ein Fall von Hellsehen

Der junge Richter

Unterwegs nach Tahiti

III Moorea und der Yoga des durchbohrten Berges

Am Fuße des Mouaputa

Relikte aus der Steinzeit

Das Tal der Schatten

Te Ana Vava

Der König

Der Palast des großen schwarzen Steins

Der Baum

Wo jede Begegnung ein Spiel ist

Die Königin

Der weiße Kakadu

Schönheit

Der Yoga des Ozeans

Erziehung

Das Schwert Rolands

Glorifizierung

IV Die Marquesas-Inseln

Die Kunst der Marquesas – eine Art Schrift

Lichtbad

V Kriegszeit

Der Polizeibeamte

Kriegsgefangener

Perlmutt

VI Die Mutter

Die erste Woche

Die drei folgenden Wochen

VII Mehetia

Die Insel

Frieden

Ozeanische Nächte

Eine innere Verbindung – wie in der Goldenen Zeit

Auszug aus einem Tagebuch auf Mehetia

Lebendige Stille

VIII Im Sri Aurobindo Ashram

Korrespondenz im Namen der Mutter

Ausstellung über China

Ananda Lahari, Welle der Seligkeit

Unterbrochene Hymne

Eine verpasste Gelegenheit

Der Felsentempel

Das Ende einer Nacht

Zurück bei den Menschen

Gleichmut, unser Fundament

Worte der Mutter

IX Damit die Türen sich öffnen

Das Geschenk von Allem

Der Schmetterling

Samadhi

Sie

Die rosa Sternennebel

Schaltknöpfe

Sri Aurobindos Planet

Botschaft empfangen und verstanden

Die höchste Verwirklichung

Und ihre Erfüllung

X Wissen, das nie verlorengeht

Der Yoga der Zärtlichkeiten

Dieses Leben

Der sich transformierende Asura

Sternen-Mensch

Mutters Traumschiff

Ewigkeit, die Geliebte

Jubelfeiern

Fortbestehen des Alten Ägypten

Eine in sich vollständige Botschaft

Glossar